Cisplatin und zwei seiner Abkömmlinge sind die am häufigsten verwendeten Krebsmedikamente der Welt. Etwa die Hälfte aller Chemotherapien wird mit ihnen vorgenommen. Gegen einige Krebsarten zeigen sie beeindruckende Erfolge. Sie greifen aber auch gesunde Körperzellen an, was schwere Nebenwirkungen mit sich bringt. Außerdem rufen sie relativ schnell Resistenzen hervor. Seit langem wird deshalb versucht, ungiftige Vorstufen dieser Medikamente (Prodrugs) erst und ausschließlich in den Krebszellen in ihre wirksame Form umzuwandeln. Dr. Johannes Karges ist dies gelungen, indem er vorhandene Ansätze zu einem neuen Ganzen integrierte und weiterentwickelte. Zusammen mit seinem Team hat er winzige Kügelchen (Nanopartikel) konstruiert, die Platinpräparate oder deren Prodrugs nur in das Tumorgewebe transportieren. Dort aktiviert er sie durch Bestrahlung mit Licht oder Ultraschall. Präklinisch hat er die Wirksamkeit dieser Verfahren bereits bewiesen. Er revitalisiert damit die von Paul Ehrlich entworfene Vision einer Zauberkugel, die eine spezifische Krankheit gezielt ausschalten kann, ohne dadurch dem Körper zu schaden.
Paul Ehrlich hatte diese Vision von „Zauberkugeln, die nur auf den körperfremden Schädling gerichtet sind, den Organismus selbst und seine Zellen aber nicht tangieren“ , in jenen Jahren erstmal formuliert, in denen er mit dem Präparat 606, dem Arsen-Komplex Arsphenamin, das weltweit erste Chemotherapeutikum entdeckte. Er entwickelte es gemeinsam mit den Farbwerken Höchst, die es 1910 unter dem Handelsnamen Salvarsan zur Behandlung der Syphilis auf den Markt brachten. Dass er damit noch nicht die ideale Zauberkugel gefunden hatte, war ihm bewusst. Aber der therapeutische Effekt seines Präparates 606 wog in seinen Augen dessen Nebenwirkungen bei weitem auf. „Es liegt daher meines Erachtens keine Veranlassung vor, schon jetzt ein Präparat ‚607' zu suchen und im Streben nach zukünftigem Bessern das vorhandene Gute zu vernachlässigen. “ In jedem Fall war die Entdeckung von Arsphenamin nicht nur ein Meilenstein der Medizingeschichte. Sie steht auch für die erste strukturell definierte Synthese eines Metallkomplexes für therapeutische Zwecke, auch wenn Arsen streng genommen nur ein Halbmetall ist. Intuitiv verwendeten schon die antiken Hochkulturen Metalle wie Gold, Eisen und Kupfer als Arzneimittel.
Die Reaktivität der Metallkomplexe
Metallkomplexe sind Verbindungen, in deren Zentrum ein Metall steht, dem es an Elektronen mangelt. Diesen Mangel gleichen die Moleküle aus, die sich mit diesem Metall verbinden, indem sie ihm Elektronenpaare spenden. Im Gegensatz zu „normalen“ kovalenten Bindungen stammen die Bindungselektronen eines Metallkomplexes folglich nur von den Liganden. Die Liganden werden bei Bildung eines Metallkomplexes also oxidiert. Das Zentralmetall nimmt Elektronen auf. Es wird reduziert. Diese Redox-Eigenschaften geben Metallkomplexen eine besondere Reaktivität, die den Austausch ihrer Liganden begünstigt. In der organischen Chemie spielen sie dementsprechend eine wichtige Rolle als Katalysatoren. Der bekannteste biologische Metallkomplex ist das Hämoglobin, das im Blut den Sauerstoff transportiert, mit seinem zentralen Eisen-Atom.
Ein zweischneidiges Schwert
Der prominenteste Vertreter der Metallkomplexe in der Medizin ist das Cisplatin. Dessen Wirksamkeit gegen Tumoren wurde in den 1960er-Jahren zufällig von dem Physiker Barnett Rosenberg an der Michigan State University entdeckt, als er den Einfluss eines elektrischen Feldes auf das Wachstum von E.-coli-Bakterien untersuchen wollte. Die dafür notwendige Spannung brachte er mit Platin-Elektroden in die Bakterienkultur ein. Zu seinem Erstaunen vermehrten sich die Bakterien nicht, sondern zogen sich zu langen Fäden aus. Sie wuchsen also, teilten sich aber nicht. Den überraschenden Grund fanden Barnett und sein Team nach sorgfältiger Untersuchung heraus: Das Platin der Elektroden hatte mit dem Ammoniumchlorid in der Nährlösung der Bakterienkultur reagiert und dabei die Metallkomplexe Cisplatin und Transplatin gebildet. In beiden geht das Platin, in räumlich spiegelbildlicher Anordnung, eine Verbindung mit je zwei Chloridionen und zwei Ammoniumionen ein. Die Zellteilung wird nur durch Cisplatin gehemmt. In seiner klinischen Prüfung zeigte Cisplatin zuerst besonders bei der Behandlung von Hodenkrebs eine hohe Wirksamkeit. Die Überlebensrate der Patienten stieg von 10 auf 90 Prozent. 1978 wurde Cisplatin von der amerikanischen Food and Drug Administration (FDA) erstmals zugelassen und hat sich seitdem bei der Behandlung vieler Krebsarten bewährt – als Zytostatikum, das während der Zellteilung die DNA-Replikation unterbindet und einen programmierten Zelltod (Apoptose) hervorruft. Dieser Wirkmechanismus trifft aber auch normale Körperzellen. Daraus erklären sich die schweren Nebenwirkungen von Cisplatin, die von Übelkeit und Erbrechen über Nieren-, Gehör- und Nervenschädigungen bis hin zur Hemmung der Blutbildung im Knochenmark reichen. Die Cisplatin-Abkömmlinge Carboplatin und Oxaliplatin sind zwar besser verträglich, aber immer noch mit erheblichen Nebenwirkungen verbunden.
Der Mut zur Interdisziplinarität
Während seines Masterstudiums der Chemie in Marburg und London sowie der anschließenden Promotion in Paris fokussierte sich Johannes Karges mehr und mehr auf die medizinische Anwendung von Metallkomplexen. Er erforschte sie in einem breitgefächerten interdisziplinären Ansatz aus biologischen, chemischen und physikalischen Methoden. Dabei gelangte er zu der Überzeugung, dass deren therapeutisches Potential auch aus Furcht vor ihrer möglichen Toxizität weit unterschätzt werde . Die Leitfrage, an der er seine Forschung fortan orientierte, lautete deshalb: Wie können wir Metallkomplexe ausschließlich in dem Tumor, den sie vernichten sollen, zur Wirkung bringen? Karges war natürlich nicht der Erste, der sich diese Frage stellte. Schon viele Forschende vor ihm hatten sie prinzipiell beantwortet: Indem wir solche Komplexe als inaktive Vorstufen (Prodrugs) verabreichen, die erst im Tumor aktiviert werden. Im Falle von Platinkomplexen müssten solche Vorstufen vierfach positiv geladenes Platin (Platin IV) als Zentralatom haben, die dann durch Reduktion aktiviert würden. Denn Cisplatin und seine Abkömmlinge sind Platin-II-Präparate. Als Aktivatoren solcher Vorstufen hatte man gehofft, natürliche Reduktionsmittel wie Glutathion oder Ascorbinsäure verwenden zu können, die in Krebszellen besonders häufig vorkommen. Allerdings sind diese Reduktionsmittel auch in normalen Zellen in geringer Konzentration vorhanden, so dass weiterhin unerwünschte Wirkungen auftreten, wenn die Prodrugs nicht zielgenau die Krebszellen erreichen. Unterstützt von seinem Doktorvater Prof. Gilles Gasser und beflügelt von einem Doktorandenaustausch mit der Universität Guanghzhou in China, setzte sich Johannes Karges deshalb ein zweifaches Ziel, nämlich den Wirkstoff oder dessen Vorstufe selektiv im Tumor anzureichern und ihn dann dort durch einen externen Trigger zu aktivieren.
Den Kern der Krebszelle im Visier
Zusammen mit seinem chinesischen Mentor Prof. Haihua Xiao erreichte Karges dieses Ziel zunächst mit dem Wirkstoff Oxaliplatin und langwelligem Licht als externem Trigger . Dieses Licht in der Nähe des Infrarotbereichs dringt tiefer ins Gewebe ein als das bis dahin vielerorts erprobte blaue Licht. Den Wirkstoff verpackten Xiao und Karges und ihr Team in einem mehrstufigen Prozess zu Nanopartikeln. Sie koppelten ihn mit einem geeigneten Photosensibilisator. Das ist ein Molekül, das in der Lage ist, die Energie von aufgenommenem Licht chemisch umzuwandeln und in Redoxreaktionen einzubringen. Dann banden sie Wirkstoff und Lichtempfänger in ein fettlösliches Polymer ein. Dessen Enden versahen sie mit wasserlöslichen Peptiden. In Selbstorganisation lagerten sich die so entstandenen langen Moleküle in Kügelchen mit einem Durchmesser von je 80 Nanometern zusammen. Damit waren die Nanopartikel zu groß, um gesundes Gewebe zu durchdringen, dessen Zellen eng miteinander verfugt sind – aber klein genug, um sich zwischen die Krebszellen zu drängen, deren Zusammenhang wegen ihres sehr schnellen Wachstums lückenhaft ist. Die Peptide auf der Oberfläche der Partikel fungierten als Adressetiketten für den Kern der Krebszellen. Dort angekommen, blieben die Partikel in Dunkelheit stabil. Erst in dem Moment, in dem sie mit rotem Licht bestrahlt wurden, zerfielen sie und setzten Oxaliplatin und hochaggressiven Sauerstoff frei, was die Krebszellen zerstörte. Diese in Zellkulturen gewonnenen Erkenntnisse, konnten Karges und Xiao in Tierversuchen eindrucksvoll bestätigen. Die Tumore von Mäusen, in denen sich die Oxaliplatin-haltigen Kügelchen angereichert hatten, verschwanden nach externer Bestrahlung mit Rotlicht innerhalb kurzer Zeit fast vollständig.
Zehnmal so weit mit Ultraschall
Selbst Rotlicht dringt aber kaum weiter als einen Zentimeter tief in einen Organismus ein. Die meisten Tumoren des Menschen lassen sich damit nicht erreichen. Ultraschallwellen dagegen können im Körper die zehnfache Strecke zurücklegen. Wäre es möglich, Vorstufen von Cisplatin durch Ultraschallbestrahlung in ihre aktive Form zu verwandeln? Ja, fand Johannes Karges im Computer Aided Design mit Verfahren der Dichtefunktionaltheorie heraus: Das könnte funktionieren, wenn wir die Häm-Gruppe des Hämoglobins als Sonosensibilisator verwenden, also als molekulare Antenne nutzen, die die Prodrug Pt1 nach Beschallung durch Elektronentransfer zum aktiven Cisplatin reduziert. Nach seiner Post-Doc-Zeit an der University of California in San Diego leitete Karges inzwischen seine eigene Nachwuchsgruppe an der Ruhr-Universität Bochum. Analog zu der bewährten Methode für rotwelliges Licht konstruierten Karges und Xiao gemeinsam mit ihren Gruppen Nanopartikel, die Hämoglobin und Pt1 enthielten. Wiederum reicherten sich die Partikel selektiv in Krebszellen an. Während sie unter physiologischen Bedingungen stabil blieben, wurde die Prodrug dort nach Beschallung in Gegenwart von Ascorbinsäure innerhalb von drei Minuten vollständig in Cisplatin umgewandelt. Im Tierversuch bildeten sich Darmtumoren bei Mäusen auch dann fast ganz zurück, wenn die Beschallung durch ein zwei Zentimeter dickes Stück Hühnerbrust hindurch erfolgte.
Aussichtsreiche Perspektiven
Mit seiner Bochumer Forschungsgruppe und seinen chinesischen Partnern verfolgt Johannes Karges inzwischen ein noch ehrgeizigeres Ziel der Krebsbekämpfung mit Hilfe von Metallkomplexen. Er will sie mit Adressetiketten versehen, die sie ins Endoplasmatische Retikulum (ER) lenken. Dort sollen sie die Bildung von aggressivem Sauerstoff katalysieren und damit einen immunogenen Zelltod verursachen, der sich dem gesamten Immunsystem mitteilt. Das Immunsystem würde dadurch in die Lage versetzt, nicht nur den Primärtumor, sondern alle Krebsstammzellen und Metastasen eines Patienten anzugreifen. Welcher Metallkomplex sich dafür am besten eignet, ist noch nicht entschieden. Die Forschung daran befindet sich noch in einem sehr frühen Stadium, hat für Johannes Karges aber klare Perspektiven.