Der Geruchssinn unterscheidet sich fundamental von den Sinnen des Sehens, Hörens, Tastens und Schmeckens. Anders als diese vier Sinne wird er nicht nur von wenigen, sondern von vielen hundert unterschiedlichen Rezeptoren vermittelt. Bei Mäusen sind es sogar mehr als tausend. Die Reize, die über diese Rezeptoren einlaufen, werden nicht wie die der anderen Sinne im Thalamus umgeschaltet, bevor sie die Hirnrinde erreichen. Sie werden aus dem Riechkolben an der Gehirnbasis zügig in tiefe Schichten der Rinde und des limbischen Systems geleitet, die eng mit Emotionen und Erinnerungen verbunden sind. Dort werden Geruchsinformationen weder topographisch repräsentiert noch hierarchisch organisiert wie das beim Hören und Sehen der Fall ist, sondern dezentral in einem eng verknüpften Netzwerk abgelegt. Von der Entschlüsselung dieses dynamischen Musters der Geruchsverarbeitung versprechen sich die Neurowissenschaften ein besseres Verständnis davon, wie Raum vom Gehirn erfahren wird, und damit neue Einsichten in dessen generelle Funktionsprinzipien. Auf diesem Weg hat Prof. Dr. Tobias Ackels einen großen Schritt gemacht. Er hat bewiesen, dass Riechen ein vierdimensionaler Sinn ist, der kleinste Zeitdifferenzen wahrnimmt, um daraus Rauminformationen abzuleiten.
Auch wenn unser Geruchssinn im Verlauf der Evolution im Vergleich zu dem vieler Tiere verkümmert ist, können wir Menschen mindestens 10.000 verschiedene Gerüche unterscheiden. Wir speichern sie als Erlebniseindruck mit zugehörigen Gefühlen tief in unserem Gedächtnis ab. Daraus steigen manchmal längst vergessen geglaubte Erinnerungen urplötzlich wieder auf, wenn wir dem einst damit verknüpften Geruch wieder begegnen. Wie sich das erstaunliche Differenzierungsvermögen des Riechens erklären lässt, wurde erst im Jahr 1991 durch eine Entdeckung der Neurophysiologen Linda Buck und Richard Axel von der New Yorker Columbia-Universität bekannt. Sie hatten – ein Jahrzehnt, bevor die Arbeitsfassung des Humangenoms entschlüsselt war – herausgefunden, dass dafür eine sehr große Gruppe von Genen verantwortlich ist, die für die Expression von G-Protein gekoppelten Rezeptoren (GPCRs) codieren, welche auf den Riechzellen als Empfangsantennen für Geruchssignale fungieren. Bei der Maus machen diese Gene drei Prozent ihres Genoms aus und enthalten die Baupläne für mehr als 1000 Geruchsrezeptoren. Und selbst im Genom des Menschen, der nur etwa 350 Geruchsrezeptoren hat, gibt es für keine andere Lebensfunktion mehr GPCR-Gene als für das Riechen.
Aus der Nase in den Riechkolben
Ausgehend von diesem gemeinsam gewonnenen grundlegenden Befund, erforschten Buck und Axel im folgenden Jahrzehnt unabhängig voneinander die Organisation des Riechsystems so umfassend, dass sie für ihre Erkenntnisse 2004 mit dem Medizinnobelpreis belohnt wurden. Kurz gesagt, sehen diese Erkenntnisse so aus: Weit oben in der Schleimhaut der Nase werden eintreffende Gerüche von Millionen von Riechzellen erwartet. Jede Riechzelle exprimiert nur einen Geruchsrezeptor-Typ. Jeder Typ wiederum befindet sich jeweils auf etwa zehntausend Riechzellen. Er ist nicht nur auf einen Geruchsstoff spezialisiert, sondern kann von vielen Düften aktiviert werden, jedoch mit unterschiedlicher Sensitivität. Das Riechspektrum aller Rezeptor-Typen überschneidet sich also. Die Impulse einer aktivierten Riechzelle gelangen über deren Ausgangskabel (Axon) zu winzigen Knäueln (Glomeruli) im Riechkolben an der Gehirnbasis, wo sie auf Mitral- und Büschelzellen umgeschaltet werden. Eine Maus zum Beispiel hat ungefähr 2000 Glomeruli. In jedem Glomerulus laufen ausschließlich Informationen aus Riechzellen vom gleichen Rezeptortyp ein. In den Eingangssignalen der Mitral- und Büschelzellen bleibt die Spezifität einzelner Rezeptortypen also zunächst erhalten. Zu dynamischen Mustern der Geruchsempfindung werden sie erst beim Ausgang aus dem Riechkolben gemischt.
Nervenzellen, die sich ein Leben lang erneuern
Die Erkenntnisse von Buck und Axel rückten das olfaktorische System von Säugetieren einerseits ins Rampenlicht der Neurobiologie. So kamen völlig überraschende Einsichten in dessen Plastizität und Flexibilität zutage. Dafür sorgen in den Schaltkreisen, die die Glomeruli des Riechkolbens mit tiefen Rindenregionen verbinden, sogenannte Interneurone. Entgegen dem einst herrschenden Dogma, wonach sich Nervenzellen beim Erwachsenen nicht erneuern können, sind sie dort in der Lage, sich lebenslang zu teilen, und haben sich auch deshalb den Ruf erworben, Dirigenten des Denkens und Fühlens zu sein. Andererseits zeigten nicht wenige neurobiologische Arbeitsgruppen eine gewisse Zurückhaltung, den Geruchssinn in das Zentrum der eigenen Forschung zu stellen. Nicht nur, weil das Feld nach dem Nobelpreis abgegrast schien, sondern vor allem, weil die Fragen, die sich darauf stellen, methodisch teilweise nur mühsam in den Griff zu bekommen sind. So konnte zum Beispiel erst 2023 zum ersten Mal die Struktur eines Geruchsrezeptors aufgeklärt werden , weil es so schwierig ist, solche Rezeptoren zu isolieren und heterolog in Zellkulturen zu vermehren, um sie der Analyse durch Cryo-Elektronenmikroskopie zugänglich zu machen. Auch galt es als große Herausforderung, die neurologische Wirkung natürlicher Gerüche, die in Duftwolken durcheinanderwirbeln, im Experiment nachzuvollziehen. Diese Herausforderung hat Tobias Ackels mit bemerkenswertem Erfolg gemeistert. Die materielle Grundlage dieses Erfolgs ist ein Geruchsapplikationsgerät (temporal odour delivery device), das Ackels konstruierte, um die Abgabe verschiedener Duftstoffe einzeln oder gemischt in zeitlich äußerst präzisen Impulsen steuern zu können.
Mäuse riechen schneller als sie atmen…
Aus zeitlich fluktuierenden Duftwolken abzuleiten, wo sie sich befinden, ist besonders für nachtaktive Tiere überlebenswichtig. Nur so können sie im Dunkeln Nahrung finden und Feinden ausweichen. Aber wie sollte es einer Maus gelingen, sich an raschen Geruchsschwankungen in ihrem Umfeld zu orientieren, wenn sie mit jedem 100 Millisekunden langen Atemzug nur eine begrenzte Anzahl von Duftstoffen aufnimmt, die an den Rezeptoren ihrer Riechzellen relativ langsame biochemische Signalkaskaden auslösen? Weil Zehntausende gleicher Rezeptorneuronen in einem Glomerulus konvergieren, mutmaßte Tobias Ackels, was zu einer enormen Verstärkung des sensorischen Signals führt. Zumal die Riechzellen eines Rezeptortyps in der Nase breit verteilt sind, so dass sie niemals gleichzeitig aktiviert werden. So kommt es im Riechkolben zu einer zeitversetzten Konvergenz: In seinem nervösen Input bildet sich das gesamte Reservoir ab, das in der Nasenschleimhaut gespeichert wird, was ihn empfänglich für schnell wechselnde Stimuli macht, die sonst verlorengingen. Diese Hypothese überprüfte Ackels zunächst in einer Computersimulation. Auch wenn er Mäuse einzelnen Geruchsimpulsen einer Dauer von 10 oder 25 Millisekunden aussetzte und dabei die Aktivität in den Axonen ihrer Riechzellen anhand des dortigen Calcium-Einstroms fluoreszenzmikroskopisch maß, fand er diese Hypothese bestätigt.
…und erschnüffeln aus winzigen Zeitintervallen den Raum
Wenn zwei Gerüche zeitlich miteinander korreliert sind, also im selben Rhythmus fluktuieren, dann stammen sie mit hoher Wahrscheinlichkeit vom selben Ort, wenn sie zeitlich nicht miteinander korrelieren dagegen von verschiedenen Orten. Um dieses Postulat von John Hopfield (Physiknobelpreis 2024) in ein Experiment der Verhaltensforschung übertragen zu können, musste Ackels erst einmal feststellen, ob Mäuse solche Korrelationsunterschiede überhaupt wahrnehmen. Dazu präsentierte er einer Schar durstiger Mäuse Gerüche aus zwei Duftstoffen, die den Ventilen seines Applikationsgerätes entweder synchron oder asynchron entströmten. Dies geschah in einem großen Käfig, in dessen oberer Etage ein Wasserspender installiert war. Die Hälfte der Mäuse wurde dort mit Wasser belohnt, wenn sie einen synchronen Stimulus, die andere Hälfte, wenn sie einen asynchronen Stimulus erkannt hatte. Hatte ein Tier sich getäuscht, konnte es seinen Durst dort nicht stillen. Beide Gruppen lernten erfolgreich die Unterscheidung der Korrelationsstruktur beider Düfte bis zu einer Frequenz von 40 Hertz. Im nervösen Output des Riechkolbens, auf Ebene der Mitral- und Büschelzellen, war diese Unterscheidung darüber hinaus mit Hilfe von Fluoreszenzmikroskopie nachweisbar. Im nächsten Schritt präsentierten Ackels und sein Team den Mäusen Geruchsstimuli, die wirklich entweder aus derselben oder aus zwei entfernten Quellen kamen, wobei sie deren Korrelationsgrad mittels Photoionisation kontrollierten. Den Mäusen gelang es dabei tatsächlich, die räumliche Herkunft der Stimuli auseinanderzuhalten.
Der Zusammenhang zwischen Geruch und Gedächtnis
„Dass der Geruchssinn von Säugetieren schnell fluktuierende Gerüche unterscheiden kann, war eine überraschende Entdeckung“, sagt Tobias Ackels. Jetzt will er auch das „Wie“ hinter diesem „Dass“ verstehen. Wie werden Informationen aus dem Riechkolben extrahiert und in höhere Regionen des Riechhirns weitergeleitet? Und welche Rolle spielen dabei die Interneurone? Um diese Frage zu beantworten, dehnt er seine Verhaltensforschung auf eine Arena aus, die den Mäusen so groß erscheint wie uns ein Fußballfeld. In dieser Arena bewegen sich die Mäuse zwischen verschiedenen Duftquellen hin und her. Ackels misst, welchen Düften sie wann begegnen, während sie hin- und herlaufen, und bestimmt mit haarfeinen Siliziumsonden, wie die Nervenzellen in ihrem Riechhirn dabei arbeiten. Ermöglicht wird ihm diese Forschung durch ein Starting Grant des European Research Council. Seine Ergebnisse werden auch das Verständnis der Funktionsprinzipien des menschlichen Gehirns voranbringen. Gibt es doch gute Gründe anzunehmen, dass sich „in der Nase das Gehirn finden“ lässt, wie ein Übersichtsartikel über den Stand der Erforschung des olfaktorischen Systems jüngst ausführte . Denn für die allermeisten Tiere ist das Riechen der wichtigste Sinn. Der Aufbau seiner neuronalen Schaltkreise prägt deren Gehirnentwicklung deshalb am ursprünglichsten und trägt möglicherweise grundlegende Bausteine und Funktionselemente zur gesamten Gehirnarchitektur bei. Weil wir visuell gesteuerte Wesen sind, neigen wir Menschen aber dazu, die Bedeutung des Riechens zu unterschätzen. Wie sehr unsere Lebensqualität davon abhängt, erfuhren während der Pandemie viele Menschen, denen durch das Coronavirus vorübergehend ihr Geruchssinn abhanden kam. Die besonders tiefe Verbindung von Geruch und Gedächtnis ist vermutlich der Grund dafür, dass ein Zusammenhang zwischen Riechdefiziten und dem Beginn einer Demenz immer wahrscheinlicher wird. Es mehren sich die Anzeichen dafür, dass Geruchsstörungen den strukturellen Veränderungen, der Gedächtnisschwäche sowie den klinischen Symptomen einer Demenz vorausgehen . Sie könnten also als Biomarker für eine sehr frühe Erkennung dementieller Erkrankungen dienen. Daraus ergibt sich für Tobias Ackels eine mögliche Translation seiner Grundlagenforschung, über die er mit den Klinikern am Deutschen Zentrum für neurodegenerative Erkrankungen in Bonn in engem Austausch steht.