Sofort nach einer sterilen Geburt werden wir Menschen wie alle Säugetiere von Mikroorganismen besiedelt. Dabei handelt es sich meist um Bakterien. Diese Kolonisation dauert lebenslang an. Sie überzieht unsere Haut und unsere Körperhöhlen mit einer Zahl von Mikroben, die diejenige aller Zellen unseres Körpers weit übertrifft. Die große Mehrheit der Mitglieder dieses Mikrobioms sind keine Krankheitserreger. Die meisten von ihnen sind Garanten unserer Gesundheit. Denn im Laufe der Evolution haben sich zwischen Bakterien und ihren Wirtsorganismen Beziehungen herausgebildet, von denen beide profitieren. Unser Dickdarm zum Beispiel bietet zehn Billionen Bakterien einen warmen und nährstoffreichen Lebensraum. Im Gegenzug verteidigen viele dieser winzigen Bewohner uns gegen ihre pathogenen Verwandten, versorgen uns mit essentiellen Vitaminen und Nährstoffen oder helfen uns bei der Verdauung komplexer Kohlenhydrate. Gelingen kann diese Symbiose nur, wenn unser Immunsystem zuverlässig zwischen nützlichen und schädlichen Bakterien unterscheidet und nur letztere angreift. Das setzt eine kontinuierliche Kommunikation zwischen den Symbionten und dem Immunsystem voraus. Der diesjährige Preisträger hat die ersten Wörter und grammatischen Regeln der Sprache entschlüsselt, in der diese Kommunikation zwischen Gast und Wirt stattfindet. Dabei hat er die erstaunliche Entdeckung gemacht, dass bestimmte bakterielle Moleküle als Erzieher des Immunsystems auftreten und ihm beibringen, ein gesundes Gleichgewicht zwischen Entzündung und Toleranz zu wahren. Diese Entdeckung hat zu vormals unbekannten Therapieoptionen geführt.
Nachdem Dennis Kasper 1967 sein Medizinstudium abgeschlossen und zwei Jahre lang als Assistenzarzt gearbeitet hatte, wurde er vom US-Verteidigungsministerium im Rahmen seiner Wehrpflicht dem Walter Reed Army Institute of Research als Spezialist für bakterielle Erkrankungen zugeordnet. Er begann, sich mit der Entwicklung von Impfstoffen zu beschäftigen, deren Effekt sich gegen die Polysaccharide auf der Kapsel von Meningokokken richtet, jenen Bakterien, die eine Hirnhautentzündung auslösen können. Diese Arbeit begründete sein Interesse an der Chemie von Kohlenhydraten, ein Fachgebiet, auf dem er sich später als Gastforscher am Stockholmer Karolinska-Institut und Arrhenius-Laboratorium fortbildete. Bei seiner Erforschung von Infektionen, die nach inneren Verletzungen oder Operationen auftraten, fiel ihm während der 1970er-Jahre eine anaerobe Bakterienart auf, die daran besonders häufig beteiligt war: Bacteroides fragilis. Das war bemerkenswert, denn diese stäbchenförmigen Keime zählten normalerweise zu den friedlichen Symbionten, die den Dickdarm besiedeln. Offenbar wurden sie erst dann gefährlich, wenn sie in den sterilen Raum der Bauchhöhle eindrangen, zumal sie gegen Penicillin resistent sind. Merkwürdigerweise verhielt sich die Kapsel des Keims chemisch fast jedes Mal anders, wenn Kasper sie extrahierte. Um der Ursache davon auf den Grund zu gehen, charakterisierte er die Kapsel 1976 mit den damals verfügbaren Methoden immunochemisch und morphologisch. Es war seine erste Publikation über die Darmmikrobe B. fragilis, die fortan ein Zentrum seiner Forschung bildete.
Wie und warum gelingt die Symbiose?
An dieser Mikrobe machte der diesjährige Preisträger eine biologische Grundsatzfrage fest, die ihn seither nicht mehr loslässt: Wie und warum kommt es im immunkompetenten Milieu des Darms zu einer friedlichen Koexistenz einer Vielzahl fremder Organismen mit unserem eigenen Körper? Lange bevor der Begriff Mikrobiom 1988 erstmals definiert und 2001 durch den Nestor der Mikrobiologie, den Nobelpreisträger Joshua Lederberg, prominent geprägt wurde , machte sich Dennis Kasper also bereits daran, dieses Mikrobiom zu erforschen. Dabei zeichnet sich seine Forschung durch zwei Besonderheiten aus: Er bedient sich der jeweils neuesten Technologien aus vier Disziplinen, nämlich der Chemie, der Genomik, der Immunologie und der Mikrobiologie. Und er fahndet mit diesem multidisziplinären Ansatz nicht primär nach assoziativen Zusammenhängen zwischen unserem Mikrobiom und unserer Gesundheit, wie sie sich – einer statistischen Umfrage ähnlich – durch metagenomische Hochdurchsatzverfahren heutzutage leicht herstellen lassen. Er fahndet vielmehr nach kausalen Zusammenhängen. Er ist also den Molekülen auf der Spur, mit denen Darmbakterien auf unser Immunsystem einwirken und es regulieren. Auf diese Art und Weise hat er herausgefunden, wie B. fragilis und andere Darmmikroben das Immunsystem ihres Wirtes modulieren. Seiner Forschung sind viele grundlegende Erkenntnisse über die mikrobielle Modulation des Immunsystems zu verdanken, von denen die Wichtigsten nachfolgend dargestellt sind.
Versteckspiel mit acht Variablen
Die Lösung der Frage, wie Darmmikroben friedlich mit uns zusammenleben können, beschäftigte Kasper ein Vierteljahrhundert lang. Sie wurde möglich, nachdem das Genom von B. fragilis sequenziert worden war. Zusammen mit seiner Kollegin Laurie Comstock veröffentlichte Kasper seine Erkenntnisse in einer Aufsehen erregenden Publikation, die Nature 2001 mit der Schlagzeile „How gut flora ‚hide'“ als Titelgeschichte präsentierte . Während viele Bakterien ihre schützende Kapsel nur mit einer Form eines komplexen Zuckermoleküls (Polysaccharid) bestücken, wenn sie überhaupt eines tragen, ist B. fragilis nämlich in der Lage, acht verschiedene Polysaccharide (PS) zu produzieren, die Kasper mit den Namen PSA bis PSH bezeichnete. Welche davon es wann herstellt, reguliert das Bakterium, indem es die für die Synthese verantwortlichen Gene nach Belieben an- oder abschaltet. So umhüllt es sich mit immer neuen Mustern von Polysacchariden und präsentiert sich dem Immunsystem mit ständig wechselnden Tarnkappen, womit es sich dessen Aufmerksamkeit entzieht. Chamäleonartig sorgt das Bakterium so dafür, vom Immunsystem übersehen und toleriert zu werden.
Ein Bakterienzucker als Gesundheitssignal
Um die Frage zu klären, warum die Anwesenheit von B. fragilis im Darm wichtig ist, untersuchten Kasper und sein Team nun dessen Wirkung auf Mäuse, die in keimfreier Umgebung geboren werden und aufwachsen. Diese Tiere können von Bakterien nicht besiedelt werden und besitzen deshalb kein Mikrobiom. Erstaunlicherweise sind ihre Abwehrkräfte schwächer als die normal aufgewachsener Mäuse, denn es mangelt ihnen an bestimmten T-Zellen. Besiedelt man ihren Darm aber nur mit B. fragilis und mit keiner anderen Bakterienart, dann reicht das aus, um ihren T-Zell-Mangel zu korrigieren und ihre Abwehrkräfte zu normalisieren, stellte Kasper fest. Besiedelte er die Mäuse dagegen mit B.fragilis, die über kein Polysaccharid A verfügten, dann trat dieser Effekt nicht ein. Ohne PSA konnte das Bakterium also den Immundefekt nicht korrigieren. Mehr noch: Das Bakterium ist gar nicht unbedingt nötig, um in seinem Wirtsorganismus die Produktion von T-Zellen zu stimulieren, wies Kasper nach. Die Gabe von hochreinem PSA allein reicht dafür aus. PSA ist folglich ein Signalmolekül, welches die Wirte des Bakteriums zur Ausreifung ihres Immunsystems brauchen. Es schützt sie vor chronischen Darmentzündungen und hilft bei der gesunden Entwicklung ihrer lymphatischen Organe wie beispielsweise der Milz.
Bruch mit einem Dogma
Die biochemischen Grundlagen für diese Immunkompetenz von PSA konnte Kasper erklären. PSA ist ein großes Polymer von etwa 150 Kilodalton und besteht aus ungefähr 200 gleichen Bausteinen. Es steckt in der Kapsel des Bakteriums und ist mit einem Lipidanker in dessen Membran befestigt. Jeder seiner Bausteine besteht aus vier verschiedenen Zuckern und weist sowohl positive als auch negative Ladungen auf. PSA ist also von zwitterionischer Natur, wie es auch Proteine sind. Deshalb kann PSA, wenngleich es ein Zucker ist, von antigenpräsentierenden Zellen des Wirtes aufgenommen, prozessiert und auf der Oberfläche dieser dendritischen Zellen im Haupthistokompatibitätskomplex (MHC) ausgestellt werden, wodurch es die Produktion regulatorischer T-Zellen stimuliert und für ein Gleichgewicht zwischen Typ-1- und Typ-2-T-Helferzellen sorgt. Für diesen sogenannten MHC-II-Weg galt in der Immunologie: Er ist für die Präsentation von Protein-Eindringlingen reserviert. Mit seiner fundamentalen Entdeckung, dass auch PSA über diesen Weg das Immunsystem aktiviert, brach Kasper dieses Dogma.
Anregung zur Produktion von Interleukin-10
Kaspers Erkenntnisse rückten zu Beginn des Millenniums – beflügelt von bahnbrechenden Befunden und technologischen Innovationen einiger Kolleginnen und Kollegen – das Mikrobiom schlagartig in das Rampenlicht der Biomedizin und machten es zu einem immer populäreren Forschungsgebiet. Im Laufe der vergangenen zwei Jahrzehnte gelang es Kasper, die Signalwege exakt zu bestimmen, über die PSA auf dendritische Zellen wirkt. Die zwitterionische Natur des Zuckers ist dafür genauso unverzichtbar wie sein Lipidanker. PSA dockt an Mustererkennungsrezeptoren wie Toll-like receptor (TLR) 2 auf der Oberfläche dendritischer Zellen an. Die Aufgabe solcher PPRs (pattern recognition receptors) ist es eigentlich, das angeborene Immunsystem zu alarmieren, wenn sie typische Molekülmuster von Fremdkörpern erkennen, damit dieses eine Entzündungsantwort auslösen kann. Erstaunlicherweise kommt es durch die Anwesenheit von PSA jedoch zu einer balancierten Modulation der T Zell-Aktivität, die letztlich zu einer Produktion von IL-10 führt. IL-10 ist einer der wichtigsten anti-entzündlichen Botenstoffe des Immunsystems. Sein Mangel kann die Entstehung von Krankheiten wie Asthma, Colitis ulcerosa und Multiple Sklerose begünstigen. Anders gesagt: Ein gesundes Mikrobiom kann diesen Krankheiten entgegenwirken. PSA-ähnliche Moleküle werden vermutlich nicht nur von B. fragilis, sondern auch von einer Reihe anderer Darmbakterien produziert.
Früher Schutz vor späterer Entzündung
PSA ist nicht das einzige Signalmolekül, das Dennis Kasper in B. fragilis entdeckt hat. Das zweite ist ein Glykosphingolipid, das mit der Abkürzung GSL-Bf717 bezeichnet wird. Während B. fragilis mit PSA die Ausreifung einer ausbalancierten Population von regulatorischen T-Zellen in dem Organismus, den es bewohnt, lebenslang steuert, greift es mit GSL-Bf717 nur innerhalb eines kurzen Zeitraums in die Entwicklung des Immunsystems ein, nämlich in den Wochen und Monaten nach unserer Geburt. Dann hemmt dieses Lipid aus der Darmbakterienmembran die Vermehrung von natürlichen Killer-T-Zellen (NKT-Zellen). Das sind T-Zellen, die Elemente von angeborener und erworbener Immunität in sich vereinen, und das Immunsystem zu überschießenden Entzündungsreaktionen und Angriffen auf den eigenen Körper verleiten können. Weil es strukturelle Ähnlichkeit mit Molekülen hat, die die NKT-Vermehrung fördern, verdrängt das bakterielle Lipid viele dieser Moleküle von ihrer Bindungsstelle und verhindert damit die Entstehung eines übergroßen NKT-Pools. Erwachsene Mäuse, die als Neugeborene dem bakteriellen Sphingolipid ausgesetzt waren, haben ein deutlich geringeres Risiko, eine Autoimmunkrankheit zu erleiden. Das ist ein wichtiges Argument für die sorgfältige Indikationsstellung bei der Anwendung von Antibiotika bei Neugeborenen. Um die strukturellen Determinanten der Immunantworten des Wirtsorganismus aufzuklären, synthetisierte Kaspers Arbeitsgruppe zusammen mit Kollegen eine Vielzahl verschiedener Moleküle und fand heraus, wie bestimmte chemische Veränderungen bakterieller Glykosphingolipide die NKT-Zellen modulieren.
Neue Ansätze gegen viele Autoimmunkrankheiten
Die Erforschung der molekularen Sprache, in der unser Mikrobiom und unser Immunsystem zum gemeinsamen Nutzen symbiotisch miteinander kommunizieren, steht noch ganz am Anfang. Dem diesjährigen Preisträger ist es gelungen, das Tor zu diesem neuen Forschungsfeld aufzustoßen. Traditionell waren die Interaktionen zwischen Mikroben und ihren Wirtsorganismen aus der Perspektive von Infektionskrankheiten untersucht worden, wodurch lange Zeit die Signalmoleküle von Pathogenen im Vordergrund standen. Dennis Kasper kommt das Verdienst zu, diese Einseitigkeit als Erster überwunden zu haben, indem er die Signalmoleküle von Symbionten in den Vordergrund stellte. So hat er in beharrlicher Arbeit Kommunikationskanäle innerhalb des Superorganismus, den unser Mikrobiom und wir miteinander bilden, aufgedeckt. Dadurch hat er die ersten mikrobiellen Signale entdeckt, die gesund und nicht krank machen. Er hat den kausalen Wirkmechanismus dieser Signale aus dem Darm exakt beschrieben. Damit zeigt er einerseits der Präventivmedizin neue Möglichkeiten auf und rückt andererseits Angriffspunkte und Strategien zur Entwicklung medikamentöser Therapien ins Blickfeld, die beileibe nicht nur den Darm betreffen. Kasper hat vielfältige Kommunikationswege aufgezeigt, über die Mikroben das Immunsystem erziehen. Die immunmodulatorische anti-entzündliche Wirkung der von ihm entdeckten bakteriellen Signalmoleküle entfaltet sich auch systemisch. Daran knüpft sich zum Beispiel auch die konkrete Hoffnung, eine Autoimmunkrankheit wie die Multiple Sklerose in Zukunft effektiver behandeln zu können.